Rechtsstaatlichkeit

Die Bedeutung des Begriffs Rechtsstaat

In seinem allgemeinsten Sinn beschreibt der Begriff Rechtsstaat einen Staat, der auf Gesetzen basiert, statt auf Willkür, und in dem niemand, nicht einmal der Staat selbst, über dem Recht steht.

Rechtsstaatlichkeit ist eines der entscheidenden Merkmale von freiheitlichen und vielfältigen Gesellschaften in westlichen Demokratien. In Kombination mit weiteren liberalen Wertvorstellungen wie zum Beispiel Menschenrechte oder soziale Gerechtigkeit zielt Rechtsstaatlichkeit darauf ab, allen Menschen in einem Land ein Leben in Frieden, Sicherheit, Stabilität und Wohlstand zu sichern.
 
 
Der Rechtsstaat in der Ideengeschichte

Überlegungen, die im Verlauf der Zeit zum Konzept der Rechtsstaatlichkeit führten, können bis in die griechische Antike zurückverfolgt werden: Der Philosoph Platon (*ca. 424) schrieb in seinem Werk “Nómoi”: ” Denn einem Staate, in welchem das Gesetz unter der Willkür der Herrscher steht und ohne Gewalt ist, sehe ich den Untergang bevorstehen, wo es dagegen Herr ist über die Herrscher und sie Diener des Gesetzes sind, da sehe ich Wohlstand und alle die Güter erblühen welche die Götter Staaten verleihen.”

Platons berühmtester Schüler Aristoteles (*384 v.Ch.) führte die Diskussion über Staats- und Regierungsführung weiter. In seinem Werk “Politiká” ging er unter anderem Fragen nach wie derjenigen, ob es vorteilhafter sei, vom besten Mann oder dem besten Gesetz regiert zu werden.

Generationen von Denkern traten in die Fussstapfen dieser Vorbilder, und im Verlauf von Mittelalter, Renaissance und Aufklärung wurde solche Themen in ganz Europa aufgenommen und diskutiert, unter anderem von so einflussreichen Philosophen wie Niccolò Machiavelli (*1469, Italien), John Locke (*1632, England), Montesquieu (*1689, Frankreich), und Immanuel Kant (*1724, Deutschland).
 
 
Der moderne Begriff der Rechtsstaatlichkeit

Der moderne Begriff der Rechtsstaatlichkeit, wie er heute verwendet wird, entwickelte sich im Europa des 19. Jahrhunderts. Damals prägte der deutsche Staatswissenschaftler Robert von Mohl (*1799) den Begriff “Rechtsstaat”, und bedeutende Verfassungsrechtler wie zum Beispiel der Engländer A. V. Dicey (*1835), oder der Franzose Raymond Carré de Malberg (*1861) entwickelten Theorien zu diesem Thema.

Heute erörtern Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an Universitäten auf der ganzen Welt und aus so unterschiedlichen Disziplinen wie Philosophie, Recht, Politikwissenschaft oder Sozialwissenschaften Eigenschaften, Geltungsbereich und Einsatzmöglichkeit von rechtsstaatlichen Prinzipien.

Manche von ihnen konzentrieren sich auf die formalen Aspekte von Rechtsstaatlichkeit, andere setzen sich mit der Verfahrensseite auseinander, und wieder andere befassen sich mit der Rolle, welche Rechtsstaatlichkeit im Zusammenwirken mit anderen Konzepten wie Demokratie, Menschenwürde, soziale Gerechtigkeit, Freiheit, Eigentum oder Menschenrechten spielt.
 
 
Rechtsstaatlichkeit als Grundprinzip auf universeller Ebene

Diese unterschiedlichen Blickwinkel mündeten nicht in eine einzige, umfassende Definition von Rechtsstaatlichkeit, sondern führten zu vielen verschiedenen Definitionen. Trotzdem ist die allgemeine Idee hinter dem Konzept weltweit zu einem derart prägenden Grundprinzip geworden, dass die Vereinten Nationen es folgendermassen beschreiben:

“Rechtsstaatlichkeit ist fundamental für den Frieden, die Sicherheit und die politische Stabilität auf internationaler Ebene; für den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt und die Entwicklung; und um die Rechte und die Grundfreiheiten der Menschen zu schützen.”
 
 
Diese weltweite Anerkennung des Rechtsstaats als Konzept hat sowohl staatliche als auch nichtstaatliche Akteure inspiriert. So hat zum Beispiel die Nicht-Regierungsorganisation World Justice Project mit ihrem Rule of Law Index ein quantitatives Bewertungsinstrument entwickelt, mit dem sich ermitteln lässt, in welchem Mass sich Staaten an rechtsstaatliche Prinzipien halten.
 
 
 Auf staatlicher Ebene ist die 2011 von der Venedig Kommission des Europarats entwickelte Rule of Law Checklist über Europa hinaus zu einem beliebten Werkzeug für internationale Regierungsorganisationen, nationale Behörden und die Zivilgesellschaft geworden, um den Grad der Rechtstaatlichkeit in einem Staat einzuschätzen.
 
 
Der Europarat und die Rechtsstaatlichkeit

Rechtsstaatlichkeit ist einer der drei Grundwerte des Europarats. Zusammen mit den anderen beiden – Menschenrechte und Demokratie – schafft Rechtsstaatlichkeit die Voraussetzungen für eine freiheitliche und vielfältige Gesellschaft, wie sie die westliche Welt nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs zu schätzen und anzustreben gelernt hat. Bereits das Gründungsdokument des Europarats von 1949 hält denn auch fest, dass jeder Mitgliedstaat der Organisation die rechtsstaatlichen Prinzipien anerkennen muss.

In der Folge flossen diese Prinzipien nicht nur in die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) ein – welche seit ihrer Schaffung 1953 durch den Europarat die Basis für den europäischen Menschenrechtsschutz bildet – und sind ein fester Bestandteil aller ihrer Artikel, sondern wurden auch zu einem Grundprinzip bei der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR).

Die Zahl von Gerichtsurteilen, die sich auf rechtsstaatliche Anforderungen bezieht, ist beeindruckend; sie beweist, dass die Menschenrechtskonvention und der Gerichtshof nicht nur Instrumente des Menschenrechtsschutzes sind, sondern auch die rechtsstaatlichen Prinzipien und ihre Durchsetzung sichern.
 
 
Rechtsstaatlichkeit in den Rechtstraditionen Europas

Die gesetzlichen Vorschriften in Bezug auf die Rechtsstaatlichkeit auf nationaler und internationaler Ebene sind eher genereller Art und liefern keine umfassende Definition des Konzepts “Rechtsstaat”. Ausserdem unterscheidet sich dieses Konzept innerhalb der drei einflussreichsten Rechtstraditionen Europas (England, Frankreich, Deutschland): Obwohl die gängigen Übersetzungen dies nahelegen, haben das deutsche “Rechststaat”, das englische “rule of law” und das französische “état de droit” nicht genau dieselbe Bedeutung.

Im Vereinigten Königreich wird Rechtsstaatlichkeit traditionellerweise als Eingrenzung der theoretisch unbegrenzten staatlichen Macht dem einzelnen Menschen gegenüber gesehen. In Deutschland konzentriert sich Rechtsstaatlichkeit auf die Natur des Staates, und in Frankreich steht Rechtsstaatlichkeit im Zusammenhang mit der verfassungsrechtlichen Überprüfung der Gesetzgebung. Diese Unterschiede sind historisch bedingt und beruhen auf unterschiedlichen Entwicklungen des Staats- und Rechtswesens innerhalb dieser drei staatlichen Hoheitsgebiete.
 
 
Die Schlüsselprinzipien der Rechtsstaatlichkeit

Obwohl eine einheitliche Definition von Rechtsstaatlichkeit fehlt, gelten rechtsstaatliche Prinzipien in Europa als allgemeine und verbindliche Norm, wenn es um die Lenkung und Einschränkung von demokratischer Machtausübung geht. Auch der Mangel an einer einheitlichen Auffassung in Bezug auf das Konzept hinter dem Begriff der Rechtsstaatlichkeit ist kein Hindernis: Eine Untersuchung der Venedig Kommission des Europarats hat gezeigt, dass die Rechtsstaat-Konzepte der drei bestimmenden europäischen Rechtstraditionen bei all ihren Differenzen gewisse Schlüsselprinzipien teilen, nämlich:
 
 
1. Gesetzmässigkeit
2. Rechtssicherheit
3. Willkürverbot
4. Justizgewährung vor unabhängigen und unparteiischen Gerichten
5. Anerkennung der Menschenrechte
6. Nicht-Diskriminierung und Gleichheit vor dem Gesetz
 
 
Im Folgenden soll anhand einiger Beispiele aufgezeigt werden, was diese Prinzipien beinhalten:

1. Gesetzmässigkeit

Gesetzmässigkeit besagt unter anderem, dass der Staat auf der Grundlage des Gesetzes und in Übereinstimmung mit dem Gesetz handeln muss, und zwar auf transparente, nachvollziehbare und demokratische Weise. Bestehende Gesetze müssen in Kraft gesetzt, angewendet, befolgt (auch vom Staat) und durchgesetzt werden. Ausserdem hat der Staat nicht nur die nationalen Gesetze, sondern auch die aufgrund von völkerrechtlichen Verträgen eingegangenen Verpflichtungen einzuhalten.

2. Rechtssicherheit

Rechtssicherheit bedeutet unter anderem, dass jedes Gesetz öffentlich zugänglich und einfach zu verstehen sein muss, und dass seine Wirkungsweise absehbar ist; dass niemand für eine Handlung bestraft werden darf, die nicht gesetzlich verboten ist; dass niemand im Nachhinein für eine Handlung bestraft werden darf, die (noch) nicht strafbar war, als sie begangen wurde; und dass von nationalen Gerichten rechtskräftig gefällte Gerichtsurteile umgesetzt werden müssen, und weder vom Kläger noch vom Staat mehr in Frage gestellt werden dürfen.

3. Willkürverbot

Willkür muss gesetzlich verboten sein. Im Weiteren muss unter anderem der Ermessensspielraum von Staatsvertreterinnen und Staatsvertretern gesetzlich geregelt und begrenzt sein; der Zugang zu unabhängigen und unparteiischen Gerichten muss jedermann gewährt werden, und Gerichtsentscheide müssen begründet werden.

4. Justizgewährung vor unabhängigen und unparteiischen Gerichten

Justizgewährung beinhaltet unter anderem, dass es eine anerkannte, organisierte und unabhängige Anwaltschaft und Richterschaft gibt; dass jedermann auf dem Rechtsweg staatliches Handeln überprüfen lassen kann; dass die Justiz unabhängig und unparteiisch, die Richterschaft qualifiziert und unvoreingenommen und das Verfahren fair ist; und dass die Gerichtsurteile umgesetzt werden.

5. Anerkennung der Menschenrechte

Anerkennung der Menschenrechte bedeutet unter anderem, dass jede Person ein Recht darauf hat, dass ihre Klage von einem unabhängigen, unparteiischen Gericht in einem fairen Verfahren und innerhalb nützlicher Frist verhandelt wird, und sich die Person dabei beraten und verteidigen lassen kann; dass jede angeklagte Person als unschuldig gilt, bis vor Gericht das Gegenteil bewiesen ist; und dass niemand zweimal für dieselbe Tat vor Gericht gestellt werden darf.

6. Nicht-Diskriminierung und Gleichheit vor dem Gesetz

Das Gesetz muss ohne jede Diskriminierung aufgrund von Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer Ausrichtung, nationaler oder sozialer Herkunft, Geburt oder anderen Gründen ausgelegt und angewendet werden.
 
 
Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit als Einheit

Bereits diese wenigen Beispiele machen deutlich, dass rechtsstaatliche Prinzipien von grundlegender Bedeutung sind für eine freiheitliche und vielfältige Gesellschaft. Allgemein ausgedrückt bereitet der Rechtsstaat den Boden für einen wirksamen Menschenrechtsschutz, indem er der Demokratie rechtliche Schranken setzt. Damit sorgt er dafür, dass die Mehrheit nicht einfach willkürlich und uneingeschränkt über die Minderheit herrschen kann.

Die Beispiele zeigen auch, wie die drei Grundwerte des Europarats voneinander abhängig sind, und wie eng sie miteinander verknüpft sind. Die Nicht-Diskriminierung zum Beispiel hat ihren Platz bei den Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit, kann aber weder aus einer Demokratie noch dem Menschenrechtsschutz weggedacht werden. Gleichermassen gehört das Recht auf ein faires Gerichtsverfahren zwar zu den Menschenrechten, kann aber nur durch rechtsstaatliche Prinzipien sichergestellt werden.

Diese Verknüpfung von Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit hat sich während der vergangenen Jahrzehnte verstärkt. Heute werden die drei Prinzipien oft als Einheit betrachtet, und ihre Förderung und ihr Schutz sind zur eigentlichen Kernaufgabe des Europarats geworden.
 

_
Fotos 1 und 4 © Europe’s Human Rights Watchdog; Foto 2 © World Justice Project; Foto 3 © CoE