Europarat schliesst Russland aus

Kommentar zum Ausschluss der Russischen Föderation

Heute ist ein trauriger Tag: Die Bevölkerung Russlands verliert nach 26 Jahren den Schutz ihrer grundlegendsten Menschenrechte, wie sie in der Europäischen Menschenrechtskonvention EMRK garantiert sind, und den Zugang zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Der Europarat verliert einen Mitgliedstaat, welcher der Organisation 1996 – von grossen Hoffnungen begleitet – beigetreten war, und sich damit den Menschenrechten, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit verpflichtet hatte.

Federführend beim damaligen Beitrittsprozess war der inzwischen verstorbene Schweizer Nationalrat Ernst Mühlemann. Obwohl Russland weder die politischen noch die rechtlichen Bedingungen für einen Beitritt erfüllte, überzeugte er seine Kolleginnen und Kollegen in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats (PACE) von den Vorteilen einer Einbindung Russlands in das Wertesystem Europas: Nach Jahrzehnten hinter dem Eisernen Vorhang sollte Russland wieder näher an Europa heranrücken, und Russlands multiethnische Bevölkerung sollte vom Zugang zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und allen anderen Vorteilen eines demokratischen Rechtsstaates profitieren können. Getragen von der Aufbruchsstimmung der Neunzigerjahre wurde Russland 1996 als 39. Mitgliedstaat in den Europarat aufgenommen.

Die Zusammenarbeit in diesem multilateralen Umfeld war von Anfang an nicht einfach. Es gab immer wieder Vorwürfe wegen Bestechungs- und Erpressungsversuchen gegenüber Politikern und Richtern, ausserdem bescherte Russland dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eine Flut von Klagen und setzte die Urteile nur widerwillig um. Während des ersten Jahrzehnts der Mitgliedschaft liessen sich diese Probleme mit viel gutem Willen noch als Anfangsschwierigkeiten betrachten. Als die Russische Föderation 2006 jedoch zum ersten Mal turnusgemäss den Vorsitz im Ministerkomitee übernahm, machte sich Ernüchterung breit: Russland versuchte immer wieder gezielt die Kernaufgaben des Europarats aufzuweichen und blockierte während Jahren das Inkrafttreten des Protokolls Nr. 14 und damit einen wichtigen Reformschritt des Gerichtshofs.

Die erste gewalttätige Eskalation der Differenzen zwischen zwei Europarat-Mitgliedstaaten erfolgte 2008 mit dem Kaukasuskrieg zwischen Russland und Georgien; die zweite 2014 mit der Annexion der zur Ukraine gehörenden Krim durch Russland. Die Parlamentarische Versammlung des Europarats entzog Russland damals das Stimmrecht; Russland reagierte mit der Einstellung der Zahlung seiner Mitgliederbeiträge. Ein unbefriedigender Kompromiss erlaubte der russischen Parlamentarierdelegation schliesslich die Rückkehr ins Plenum, aber das Unbehagen gegenüber einem Mitgliedstaat, dessen Machthaber ihn vor aller Augen zu einer Diktatur umbaute, blieb bestehen.

Mit seinem Krieg gegen die Ukraine war Putins Russland für eine wertebasierte Organisation wie den Europarat schliesslich nicht mehr tragbar: In einer historischen Abstimmung verabschiedeten die Mitglieder der Parlamentarischen Versammlung einstimmig die Empfehlung ans Ministerkomitee des Europarats, Russland auszuschließen. Das Ministerkomitee, bestehend aus den Aussenministerinnen und Aussenministern der 46 Mitgliedstaaten, folgte dieser Empfehlung und schloss heute morgen die Russische Föderation mit sofortiger Wirkung aus.

Ein Kapitel in der langen Geschichte des Europarats ist zu Ende gegangen, neue werden folgen – und wer weiss: Eines Tages wird sich ein neues Russland vielleicht wieder offiziell zu den europäischen Werten bekennen wollen und in diejenige Organisation zurückkehren, die diese Werte bereits seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs schützt und fördert.

Sollte dies der Fall sein, wird meine Aktentasche mit dem Logo von Russlands Vorsitz im Ministerkomitee aus dem Jahr 2006 jedenfalls bereitstehen…

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Foto © Europe’s Human Rights Watchdog

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